Denken wie ein Anwalt
Wozu denken wie ein Anwalt?
Ein alter amerikanischer Anwaltswitz lautet:
„Ein Anwalt und ein Banker fallen von einem Hochhaus. Wer schlägt als erster auf? Wen kümmerts...“
Vielleicht kümmert es gerade Sie?
Was, wenn Anwälte nicht immer so sind, wie in diesem Witz impliziert? Was, wenn Anwälte nicht nur berechnend, zynisch, fies und skrupellos sind, nicht den Gesichtsausdruck des Mannes auf der Titelseite dieses Buches und keine Seele haben? Was, wenn sie nicht immer nur dazu da sind, andere fertigzumachen? Was, wenn im Gegenteil Anwälte helfen können und Denkansätze haben, die Ihnen nützen?
Keine Angst, Sie halten nicht (schon wieder) eine Sammlung juristischer Fälle in der Hand, die von einem Anwalt kommentiert oder analysiert wird. Dieses Buch enthält keine Rechtsberatung und erklärt Ihnen auch nicht Ihre Rechte oder Pflichten. Dieses Buch ist etwas ganz anderes.
In diesem Buch interviewe ich für Sie einen Anwalt zu alltäglichen Herausforderungen, kurz: zu schlechtem Verhalten, das jeden nervt, und das jeder von uns am liebsten einfach per Knopfdruck abstellen möchte. Dieser Anwalt ist Mark, mein Ehemann, und ich will von ihm wissen, wie er auf solche Situationen reagiert, warum er das tut, und was wir Normalsterbliche von seiner Herangehensweise lernen und wie wir uns damit den Alltag erleichtern können. Lassen Sie mich Ihnen dazu ein frisch erlebtes Beispiel schildern.
Ich sitze im winzig kleinen Wartezimmer eines radiologischen Instituts. Bald werde ich in eine MRT-Röhre gesteckt. Im Raum herrscht eine andächtige Stille, an drei verschiedenen Wänden hängen Schilder mit rot durchgestrichenen Telefonsymbolen. Ich nutze die Ruhe, um in Gedanken meine Atemübungen durchzuspielen. Die brauche ich, um die 30 Minuten in der Röhre regungslos durchzustehen. Plötzlich stürmt aus dem Untersuchungszimmer ein soeben abgefertigter Patient. Er faucht in lautem amerikanischem Englisch in sein Handy eine Frau namens Liv an. Breitbeinig baut er sich mitten in der engen Kammer auf, in der ich als einzige andere Patientin warte, und liest mit eindringlicher, lautstarker und zugleich emotionsloser Penetranz der Frau die Leviten. Seine abstoßende Aura füllt sämtliche Fugen und Ritzen des Raums aus. Ich weiß nicht, wer mir mehr leidtut: die Liv am anderen Ende der Leitung oder ich.
Ich jedenfalls kann diese akustische Umweltschändung nicht ertragen, bin aber zugleich ob dieser beispiellosen Überheblichkeit wie paralysiert. Ich sage kein Wort und verweile in Schockstarre, während der Mann lautstark weiterredet. Mein autogenes Training wurde zu Tode instruiert. Ich möchte mich dringend wehren, bringe es aber nicht fertig und leide still weiter. Nach qualvollen vier Minuten huscht eine Praxisassistentin hinter dem Rücken des Telefonrüpels in geduckter Körperhaltung auf mich zu.
Sie flüstert in meine Richtung, als wollte sie die unpassende Vorstellung am Handy ja nicht stören: „Frau Livschitz, Sie sind dran.“
Ich glaube nicht, was ich da sehe und höre. Statt den Mann auf die Verhaltensregeln hinzuweisen, die in dem Raum gelten, unterwirft sich die Mitarbeiterin seiner dominanten Arroganz. Jetzt war ich nicht mehr nur schockstarr, sondern auch noch verunsichert in meiner Wahrnehmung. Was ist richtig, was ist falsch, und hätte ich mich wehren sollen?
Nach dem Termin holt mich Mark ab, und ich schildere meinem Mann die Sequenz. Seine Reaktion: „Du hast den Kerl nicht auf die Verbotsschilder hingewiesen? Auch ohne solche Schilder widerspricht sein Benehmen jedem Common Sense. Es wäre adäquat und korrekt gewesen, den Störenfried in bestimmtem Ton höflich zu bitten, für sein Gespräch den Raum zu verlassen. Im Falle seiner Weigerung hättest du beim Empfang die sofortige Stornierung deines Termins androhen können; es ist dir nicht zumutbar, weiter in der Arztpraxis zu verweilen, in der die Hausregeln zum Schutz der Patientinnen nicht durchgesetzt und die Kundschaft des Hauses unerträglichen Belästigungen ausgesetzt werden. Die hätten dann beim Störenfried schon interveniert.“
Eigentlich logisch, und für mich wäre das zugleich ein eleganter Ausweg gewesen. Ich hätte mich nicht länger mit dem Rohling herumschlagen müssen. Ich hätte es den Inhabern des Hausrechts überlassen, ihn zu disziplinieren, ohne selbst Angst zu haben, von ihm beschimpft oder gar angegriffen zu werden. Aber warum bin ich nicht darauf gekommen? Hat mich etwa die ängstliche Unterwürfigkeit der Praxisassistentin (also eigentlich der Hausherrin) verunsichert?
Mark sagt dazu nur: „Natürlich, das ist typisch. Sie hat auf die eigenen Regeln und letztlich auch auf den eigenen Anstand verzichtet, nur weil der Mann einschüchternd wirkte. Die meisten Menschen reagieren in solchen Situationen opportunistisch, gerade gegenüber akustischer Gewalt. Das heißt aber noch lange nicht, dass ihre Reaktion richtig ist. Was hätte wohl der Amerikaner gesagt, wenn zugleich auch du in dein Telefon zu schreien begonnen hättest? Es ist falsch, auf geltende Regeln zu verzichten, nur weil andere schweigen und jemand laut spricht und so tut, als wäre er Viktor Orbán.“
Ja wie es denn möglich sei, dass sich jemand so daneben verhält und sich nichts dabei denkt, frage ich verdutzt.
„Das ist typisch“, erklärt mein Mann schulterzuckend. „Schlechtes Verhalten kommt meistens selbstbewusst daher.“
Wirklich interessant. Mark kann sofort die Verhaltensmotive aller Akteure einschätzen und entwickelt umgehend Strategien, wie er den einen gegen den anderen ausspielt. Er erkennt, was vermutlich eine Wirkung erzielen wird, was nicht und warum nicht. Genau darum wünsche ich mir jedes Mal in einer unangenehmen Situation, ich könnte meinen Mann oder wenigstens sein Gehirn aus meinem Urban-Backpack kramen und fragen: Was nun?
Sein typisch anwaltlicher Denkansatz bringt oftmals eine rasche Lösung, ohne Streit, ohne Gerichte, ohne Nervenaufrieb. Bewundernswert.
Vielleicht sind Sie jetzt gerade etwas erstaunt und fragen sich: Seit wann wollen Anwälte Streit, Gerichte und Nervenaufrieb vermeiden? Ihr Image behauptet doch das glatte Gegenteil. Das ist richtig und auch wieder nicht.
Anwälte leben zwar von den Streitigkeiten anderer, lassen sich aber selbst nur sehr ungern darin verwickeln. Und so wissen sie genau, wie man Streit vermeidet und dennoch an sein Ziel kommt – und an sein Recht.
Von diesem Wissen kann jeder profitieren. Deswegen möchte ich für Sie in diesem Buch aufzeigen, mit welchen Mitteln und Werkzeugen Anwälte das im Alltag schaffen. Mein Mann Mark wird Sie bei alltäglichen Problembewältigungen sozusagen durch sein Gehirn führen. Nicht so sehr durch sein juristisches Wissen, sondern durch sein strategisches Verständnis. Sie bekommen auf diese Weise einen taktischen Handlungsleitfaden bereitgestellt, der Ihnen helfen kann, ihre Ziele im Umgang mit Alltagskonflikten zu erreichen. Natürlich ohne Gewähr, aber mit einer vielversprechenden Chancenverbesserung:
Ob beim anzüglich-übergriffigen Berater, bei der diffamierenden Arbeitskollegin, beim abgetauchten Betrüger, beim überheblichen Beamten, dem abweisenden Türsteher, der überbuchten Flugreise, dem schadensstiftenden Kunden, der Schlechtbehandlung im Restaurant oder dem rücksichtslosen Mitreisenden im Zug: Sich dabei richtig zu verhalten, wird Ihnen nach der Lektüre dieses Buches gar nicht mehr so schwierig erscheinen.
Und noch etwas. Mein Mann bleibt – genauso, wie man das von einem Anwalt erwartet – bei Problemsituationen stets unaufgeregt, sortiert und standfest. Egal, ob im Streitgespräch mit dem um einen Kopf größeren Architekten, der mit seinem rücksichtslosen Baustellenmanagement unsere Nachbarschaft in einen Ausnahmezustand versetzt, oder beim Bemühen, die „Kundenorientierung“ des Beraters der Telefongesellschaft zu verbessern oder beim „Motivieren“ des noch nicht ganz warm gelaufenen Beamten hinter dem Schalter. In Situationen, in denen andere längst einen Nervenzusammenbruch erlitten hätten, scheint sich Mark wie der Scharfschütze zu verhalten, der die Flugbahn seines Projektils bis zum Ziel kalkuliert. Und genau diese innere Ruhe ist der Schlüssel zur Überlegenheit in Situationen, wo sich Ihr Gegenüber flegelhaft benimmt und auch noch glauben machen will, er sei im Recht.
Zugegeben, auch bei meinem Mann gibt es Ausnahmen - wie neulich, als er am Fenster stand und ein paar pöbelnde Jugendliche mit furchterregendem Gebrüll verjagte. Da hat er sich auf eine wundersame Weise von seinem typischen unaufgeregten Selbst in einen Dampfkochtopf mit defektem Ablassventil verwandelt. Das zeigt, dass auch Anwälte nur Menschen sind. Sie haben also gute Chancen, seinen Vorsprung durch die Lektüre dieser Zeilen ein wenig zu verkürzen oder es zumindest zu versuchen. Auf jeden Fall kann ich Ihnen versprechen: Sie werden am Ende dieses Buches viele Alltagssituationen mit anderen Augen sehen und sich besser zu helfen wissen. Denn „denken wie ein Anwalt“ ist gar nicht so schwer.